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Wie wichtig ist eine Nachsorge-Gruppe und die Begleitung von Hinterbliebenen?

Ein Bericht von Melanie Klinke-Moser

Zu meiner Person

Mein Name ist Melanie Klinke-Moser ich bin 44 Jahre alt und von Beruf Erzieherin. Eigentlich wurde ich angefragt, ob ich einen Bericht darüber schreiben könnte, wie ich von „der Betroffenen zur Teamerin“ wurde, aber daraus entstand unteranderem dieser Bericht von mir.

Meine Geschichte

Am 6.Februar 1996 starben meine Eltern bei einem Flugzeugabsturz in der Dominikanischen Republik. Nicht nur ich, sondern mein ganzes Umfeld, meine Geschwister, Verwandte, Freunde, sowie der ganze Ort und Umkreis in dem ich wohnte waren betroffen und standen unter Schock. Damals war ich zwanzig, meine drei jüngeren Geschwister Corina und Christian 17 (Zwillinge) und mein kleinster Bruder Mathias 9 Jahre alt.

Der Tod meiner Eltern kam für alle überraschend, plötzlich, nicht vorhersehbar – mit einem der sichersten Verkehrsmittel der Welt, dem Flugzeug. Von einem Tag auf den anderen war nichts mehr wie es vorher war und für uns alle änderte sich plötzlich das bisherige, unbedarfte und unbeschwerte Leben. Ich war gerade im letzten Jahr meiner Ausbildung zur Erzieherin, wollte ausziehen in eine eigene Wohnung, war im Ablöseprozess, auf dem Weg zum Erwachsenwerden, aber so hatte ich mir das natürlich nicht vorgestellt.

Sich nicht verabschieden können

Mein Vater wurde nicht gefunden, meine Mutter wurde zwar geborgen, aber wir durften sie nicht mehr ansehen und nicht mehr berühren. Aber das machte es auch so schwierig, den Tod meiner Eltern zu „be-greifen“. Jahrelang träumte ich, sie stehen mit den Koffern wieder da und sagten: „Das war alles ein großes Missverständnis.“

Nun aber wir kann man in so einem Fall den Tod eines geliebten Menschen dann begreifen, vor allem, wenn es  keinen Leichnam gibt, ich nichts „zum Greifen“ habe und ich mich nicht Verabschieden kann? Kann man so etwas überhaupt begreifen?

Ein Beispiel

Kinder lernen durch Greifen, sie begreifen die Welt mit allen Sinnen. Begreifen, hat also auch immer etwas mit „greifen“ zu tun. Auch wir Erwachsene müssen manchmal „greifen“ um es zu „be-greifen“.

Der Trauerprozess wird also verzögert, wenn man sich nicht verabschieden kann. Hinzu kommt, dass beim „plötzlichen Tod“ der Schock so groß ist, das man es ebenfalls nicht wahrhaben möchte. Man glaubt nicht, dass es wirklich passiert ist.

Zwei Faktoren also, die den Trauerprozess stoppen. Gerade deshalb, ist es wichtig, dass es Nachsorgeangebote und eine Begleitung für Hinterbliebene gibt. Angebote, die einem helfen weiter zu gehen und nicht im Trauerprozess stehen zu bleiben.

Tröstend war für uns, dass wenigstens ein Elternteil gefunden wurde. So konnten wir meine Mutter auf dem Friedhof in unserem Ort beerdigen. Die Trauerfeier und Beerdigung war nicht nur für uns wichtig, auch Verwandte, Freunde, Bekannte, Vereinsmitglieder, der ganze Ort – alle wollten sich verabschieden. Wir haben übrigens ein Doppelgrab genommen  mit einem großen Grabstein auf dem beide Namen stehen: Unsere Augen lesen und wir begreifen, beide sind gestorben.

Nach meinen Eltern starben jährlich Familienmitglieder. Meine Großtante, die neben uns wohnte und eine Art Ersatzoma war, mein Opa, für den der plötzliche Tod seiner Tochter, meiner Mutter,  den eigenen Tod bedeutete, ein Onkel und später noch meine Oma.

Immer wieder erlebte ich Unterschiede in Bezug auf den „plötzlichen Tod“ und die Möglichkeit des „ sich verabschieden können“.

Näheres dazu in dem Buch: „Hinterbliebenen – Nachsorge“ – Absturz der Birgenair Maschine 1996

Hinterbliebenen-Treffen

Damals gab es noch keine Notfallseelsorge, Notfallnachsorgedienst, PSNV, NOAH oder ähnliches. Die meisten Hinterbliebenen erfuhren vom Tod ihrer Angehörigen durch die Zeitung oder das Fernsehen. Viele der zuständigen Polizisten und selbst die Pfarrer waren damals mit der Situation überfordert und nur Einzelne von ihnen konnten für uns eine Hilfe sein.

Sybille und Hartmut Jatzko haben 1996 in Eigeninitiative zu einem 1. Hinterbliebenentreffen in Frankfurt eingeladen. Obwohl die Zielflughäfen der „Birgenair Maschine“ Frankfurt und Berlin waren, kamen sehr viele der Angehörigen zu dem Treffen angereist. Keiner der Angehörigen wusste, was ihn da erwarten würde, da es nichts Vergleichbares vorher gab. Alle Betroffenen befanden sich in einem Zustand, den keiner vorher in dieser Art gekannt hatte.  Jeder war voll Traurigkeit, Wut, stand noch unter Schock, war fassungslos, verzweifelt. Alle hatten ähnliche oder gleiche Gefühle und jeder hatte jetzt, von einem Tag auf den anderen, ein anderes Leben. Nichts war mehr, wie es vorher war. Alles fühlte sich so fremd an, eine große Leere breitete sich aus und alle beschäftigte nur eine Frage: Warum?

Sybille Jatzko hatte außerdem ein Ehepaar eingeladen, die ihren Sohn bei dem „Ramstein Unglück“ verloren hatten.  Schon allein mit deren Anwesenheit und ihrem „normalen Aussehen“ leistete das Ehepaar einen großen Beitrag. Sie standen für eine Tatsache, an die wir nicht mehr glauben konnten. Für uns alle war die Welt stehen geblieben und das Leben lief wie im Film weiter, nebenher.

Nun gab es für uns einen „Lichtblick“ in der schlimmsten Zeit unseres Lebens: Die Tatsache, dass man dieses Schicksal „überleben“ kann. Nach diesem Treffen hatten wir noch mehr gemeinsam, wir wussten: „Wir sind nicht allein, es geht auch noch anderen so.“

Unsere regelmäßigen Treffen (2x im Jahr) sowie der jährliche Gottesdienst um den Todestag zeitgleich in Frankfurt und Berlin dienten damals nicht nur als psychologische und seelsorgerische Begleitung und Unterstützung, sondern auch zum Informationsaustausch. 1996 gab es noch kein Internet, Facebook, Whats App, etc. Alle Informationen liefen über den TV, Zeitung, Postweg, Telefon oder die besagten Treffen. Daher kam ich, nachdem der Absturz nicht mehr „aktuell“ war, immer relativ spät an Informationen heran. Erst bei den Treffen wurden dann wieder neue Informationen ausgetauscht. Jahre später erst hatten wir alle für uns wichtigen Informationen zum Thema: „Aus welchen Gründen ist der Absturz passiert“ zusammen und konnten zumindest dieses Kapitel abschließen. Die Nachsorgetreffen wurden zu einem festen Bestanteil und in den ganzen Jahren fehlte ich nur bei zwei Treffen. In einem fließenden Übergang wurden dann die Treffen von uns Angehörigen selbst organisiert und das führte dazu, dass wir quer durch Deutschland gereist sind, um uns zu sehen. Wir haben Städte wie Berlin, Würzburg, Heidelberg besichtigt und viele wunderschöne Landschaften gesehen. Bis heute nehmen ca. 20 Angehörige noch an unseren Treffen teil. Unser Augenmerk liegt zwischenzeitlich auf guten Gesprächen, gemütlichem Beisammensein, und wie oben beschrieben kleinen Wanderungen und Stadtbesichtigungen. Bis heute treffen wir uns noch regelmäßig zweimal im Jahr (Gottesdienst/Gedenken am Stein in Frankfurt und unser „Herbsttreffen“).

Spurensuche

Wichtig war für mich auch die sogenannte „Spurensuche“. Zweimal bin ich in die Dominikanische Republik geflogen. Das erste Mal begleitet von Sybille und ihrem Team sowie 25 Hinterbliebenen. Das zweite Mal mit meinem Mann alleine. Hätte ich die erste Reise nicht gemacht, hätte ich die zweite bestimmt auch nicht gemacht und hätte heute womöglich noch mehr Flugangst, wäre in kein Flugzeug mehr gesessen und schon gar nicht in die Dom. Rep. geflogen. Ich kann sagen, dass eine psychologisch begleitete Reise zum Unglücksort sehr wichtig ist um Abschied zu nehmen. Und auch hier muss ich sagen, dass Sybille und ihr Team damals alles sehr gut für uns organisiert hatten.

Folgende Metapher fiel mir ein, wie ich ein Nachsorge- oder Hinterbliebenen-Treffen beschreiben könnte …

Nachsorge ist wie eine Busreise

Ein Hinterbliebenen-Treffen ist wie eine gemeinsame Busfahrt. Nach so einem Schicksalsschlag brauchen Angehörige jemand der sie einlädt auf eine neue Reise und sie begleitet in ein neues Leben, sowie Mitfahrende die dasselbe erlebt haben um zu erfahren: “Ich bin nicht allein”

Wie komme ich auf das Bild

1996 stand ich wie alle anderen Angehörigen auch in einem Leben in dem nichts mehr war wie vorher. Da kam unser Reiseleitung „Sybille Jatzko und ihre Mannschaft“ und luden uns ein in ihren „Bus“ zu steigen. Nun saß ich mit allen Angehörigen in einem Bus und keiner wusste wohin die Reise geht. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass der Bus überhaupt irgendwo hin fährt, denn jeder von uns wollte lieber zurückfahren und das schreckliche Ereignis rückgängig machen.

Wir konnten nicht mehr nach vorne blicken. Für uns gab es keine Haltestationen mehr, kein Ziel nur noch Ängste, Schmerz, Wut und Verzweiflung. Der Bus fuhr los, das bedeutete keinen Stillstand. Während der Reise wurden Fragen geklärt, gemeinsam geweint, gelacht und vieles mehr. Manchmal stiegen noch weitere Passagiere dazu, der Bus war groß genug und hatte Platz für jeden. Auch schirmte der Bus uns gut vor Medienvertretern ab, man konnte ungestört reden und sich mitteilen. Die Fahrt dauerte ein Wochenende und es war klar, wir werden uns wieder treffen und noch viele gem. Busfahrten unternehmen.

Daher bin ich auch heute noch sehr dankbar das Sybille und ihr damaliges Team uns eingeladen haben in diesen Bus einzusteigen und uns mit auf diese besondere Reise zu nehmen. Tatsächlich fand einmal eine Busfahrt statt, da einer der Angehörigen ein eigenes Busunternehmen hat. 🙂

Zusammenfassung

Ein Nachsorgetreffen ist wie eine Busfahrt, die jemand anderes organisiert, Einladungen verschickt und die Menschen während der gemeinsamen Fahrt begleitet. Die einen geschützten Raum bietet und den Bus ins „rollen“ bringt, so dass wieder Haltestellen sichtbar werden. Man erkennt, dass man nicht alleine ist und kann sich austauschen. Man fühlt sich verstanden, ernstgenommen und nicht mehr allein mit seinem Schicksal.

Dies habe ich nochmals in folgende Punkte untergliedert

1. Eine Nachsorge-, Hinterbliebenen-, Trauergruppe ist wichtig:

  • für einen Austausch von Informationen
  • und vor allem, um zu erfahren
  • „Ich bin nicht allein mit meinen Ängsten, Sorgen, Nöten, Gefühlen usw.!!!“

2. Es ist wichtig, dass Angehörige aus anderen Unglücken dabei sind, um den Betroffenen zu vermitteln:

  • man kann so etwas „überleben“
  • um zu erzählen was einem im Alltag geholfen hat- positiver Blick
    (Freunde, Familie, Haustiere, Sport, Hobbys, Musik, etc.)

Was kommt auf einen zu:

  • Formalitäten
  • nichts ist mehr wie es war – ein neues anderes Leben
  • Beerdigung/Trauerfeier
  • Medieninteresse
  • Feste ohne den Angehörigen: Geburtstage, Weihnachtszeit, Silvester etc.
  • 1.Todestag
  • und vieles neues mehr

3. Es ist wichtig zu wissen:

  • dass Streitigkeiten und Missverständnisse in der Familie untereinander normal sind, da jeder sich im „Ausnahmezustand“ befindet.
  • jeder geht auf seine eigene Art und Weise mit dem Geschehenen um.
  • die Erkenntnis, dass es kein Rezept gibt, aber Tipps zur Unterstützung.
  • dass es verschiedene Trauerphasen gibt.
  • dass jeder anders trauert, auch wenn man den denselben Angehörigen verloren hat.

4. Zudem ist es wichtig,  dass Angehörige die Möglichkeit haben ohne Medienvertreter auf „neutralem Boden“ über Ihre Bedürfnisse, Gefühle, Ängste und vieles mehr zu sprechen.

Eigene Weiterentwicklung

Da das Thema: „Sterben, Tod und Trauer“ zu einem Teil meines Lebens geworden ist und ich nicht davonrennen konnte, auch wenn ich es gewollt hätte, nahm ich mein Schicksal an und setzte mich intensiv damit auseinander.

Nach und nach habe ich viele unterschiedliche Bücher zum Thema: „Trauer“ gelesen. Diese haben mir auch nochmals sehr geholfen, um meine eigenen Empfindungen, sowie die unterschiedlichsten Gefühlszustände zu erklären und zu erkennen: „Ich bin normal und mein Verhalten ist NORMAL“.

Da ich sehr viele positive Erfahrungen in unserer Nachsorgegruppe gemacht habe, beschloss ich irgendwann diese Erfahrungen weiterzugeben. Beruflich bin ich immer noch Erzieherin. Zusätzlich habe ich mehrere psychologische Weiterbildungen gemacht, sowie eine Fortbildung zum Thema: „Trauerarbeit mit Kindern“. 2006 habe ich den Verein  „Lichtblick- TAK e.V. für trauernde Kinder und Jugendliche“ in Heilbronn mitgegründet.

Zusätzlich nahm ich an verschiedenen Veranstaltungen, Angehörigentreffen anderer Unglücke und Arbeitskreise teil:

Dies habe ich nochmals in folgende Punkte untergliedert

  • 2004 Angehörigen Treffen mit den Betroffenen und Hinterbliebenen von Tsunami in Thailand. Dieses Treffen fand gemeinsam mit unseren Angehörigen vom Flugzeugabsturz der Birgenair Maschine unter der Leitung von Joachim Müller-Lange und Sybille Jatzko statt.
  • 1. Treffen  mit Menschen und Einsatzkräften unterschiedlicher Unglücke mit Einzelschicksalen
  • 2009 Bundeskongress für Notfallseelsorge in Koblenz
  • Mitarbeit beim BBK „NOAH“ (Nachsorge, Opfer -und Angehörigenhilfe)
    • 2009  1. Angehörigentreffen des Flugzeugunglück der Air France Maschine
    • 2011  1. Angehörigentreffen des Flugzeugabsturzes in Katmandu/Nepal
    • 2015  1. Angehörigentreffen von Angehörigen und Betroffenen des Erdbebens in Nepal
    • 2017/2019  Arbeitskreis: Leitfaden „Treffen für Betroffene von Anschlägen und Katastrophen“
    • 2017/2020 Arbeitskreis: „Kind und Katastrophe“
  • Mitarbeit bei Treffen der Stiftung Notfallseelsorge Bonn
    • 2015/2016 Germanwings Unglück
    • Seit 2018 beim DRK Heilbronn- Psychosoziale Notfallversorgung
  • Sonstiges:
    • Bericht in dem Buch:  „Hinterbliebenen- Nachsorge“
      Absturz der Birgenair- Maschine in der Dominikanischen Republik
      (Seite 165-178)
    • Vorträge zum Thema:  „Trauer“, „Meine eigene Geschichte und Erfahrungen“

Abschluss

Auf allen Nachsorgetreffen gab es immer einen unterschiedlichen Pool von weiblichen und männlichen „Teamer“ (Pfarrer, Psychologen, Betroffene aus anderen Unglücken, etc.) Dies fand ich sehr bereichernd und jeder von den Angehörigen konnte sich mit demjenigen unterhalten, der für ihn in diesem Moment hilfreich oder der für ihn der richtige Ansprechpartner war.

Ich hoffe mein Beispiel zeigt, wie wichtig die Nachsorge und ein unterschiedliches Team für die Angehörigen sind, denn genau diese Kombination hat einen sehr großen Teil dazu beigetragen, dass ich „von der Betroffenen zur  Teamerin“ wurde.

Melanie Klinke-Moser